Tradition heißt nicht die Asche aufheben, sondern die Flamme
weiterreichen. (Ricarda Huch)

Jubeln heute?!
(Sprüche 8,1 - 9,6 - teilw.)

Liebe Gemeinde,

Jubilate – Kantate – Rogate. Jubelt – singt – betet! Das sind die großen Themen der drei Sonntage mitten in der Osterzeit. Heute – ich sagte es schon – ist der erste dieser drei Sonntage. Und wir sind damit gebeten, zu jubeln, uns zu freuen und fröhlich zu sein.

Bleibt die Frage, wie das gehen soll, heute in unserer Zeit. Mit immer mehr despotischen Herrschern und immer mehr Kriegsherden. Mit schwindender gesellschaftlicher Toleranz und steigenden individuellen Ansprüchen. Mit steigenden Preisen, steigenden Temperaturen, steigenden Meeresspiegeln. Und auch mit all den traurigen persönlichen Erfahrungen, die wir in dieser oder jener Weise haben machen müssen.

Jubeln, sich freuen, trotz allem? – Wie soll das gehen? Mit dieser Frage kommen ich zu unserem Predigttext, ein Stück Weisheitsliteratur, inzwischen etwa 2.500 Jahre alt. Und wenn ich in diese Worte hineinhöre, dann höre ich zunächst zwei Dinge.

Das Erste, was ich höre ist: schwierige Lebensumstände, böse und dumme Mitmenschen, Umbrüche und Zeiten, in denen man sich neu orientieren muss, gezwungen ist, sich mit Ungewohntem und Fremdem und auch mit Leid und Ohnmachtsgefühlen auseinanderzusetzen, die gab es damals und die gibt es heute. Die Fragen, die dann aufbrechen, ähneln sich deshalb. Sie tragen lediglich ein neues, aktuelles Gewand:
- Wie kann es sein, dass es auch heute wieder Krieg und Gewalt gibt? Was können wir daraus lernen? Und was können wir dagegen tun?
- Wie können wir lernen, mit der Angst vor Neuem, vor Ungewohntem, auch vor Unkontrollierbarem umzugehen? Wie können wir lernen, davor nicht wegzulaufen, sondern es tapfer anzunehmen?
- Und wer sind wir eigentlich noch als Gemeinschaft, als Volk, als Staat, als Kirche in dieser sich mal wieder verändernden Welt? Was ist unsere Bestimmung, unser Auftrag? Oder persönlich und christlich gefragt: Wie lautet der Gedanke, den Gott in mich gelegt hat? Und wie kann ich heute sein Lächeln widerspiegeln, das mich seit meiner Geburt begleitete?

Die Fragen ähneln sich, damals wie heute. Das ist das Erste, was ich höre. Das Zweite was ich höre, ist die eine große Antwort auf diese Fragen. Und die lautet: Weisheit. D.h., begegne dem Leben, den Veränderungen und all den damit verbundenen Fragen mit Weisheit.
Was das konkret bedeutet, darum geht es in unserem Predigttext und da gibt es viele sehr interessante und bedenkenswerte Anknüpfungspunkte. Von denen möchte ich jetzt drei herausgreifen, drei, die mir besonders nahe gegangen sind und mir gerade heute wichtig zu sein scheinen.

Also: Was ist weise? Die erste Antwort, die ich in unserem Text finde, lautet: Weise ist, wenn ich mir selbst und meinen Gedanken und Gefühlen gegenüber kritisch bleibe. Zum Bespiel durch Besonnenheit, auf die uns der Vers 12 ausdrücklich hinweist.

Gewichtiger ist im Text aber ein zweiter Hinweis. Er lautet: Weise ist, in allem immer wieder neu auf Gott und auf sein Wort zu hören. Und ein eindrückliches Bild dafür sind die Türpfosten, die am Ende unseres Textes erwähnt werden. Da heißt es nämlich: Glücklich ist der Mensch, der auf mich hört, der Tag für Tag an meiner Haustür wacht und am Türpfosten auf mich wartet.

Das hebräische Wort für Türpfosten ist Mesusa. Und dies hier ist eine Mesusa. Die Mesusa ist ein kleines Behältnis, die Juden bis heute am Türpfosten ihres Hauses anbringen. Diese Behältnis enthält ein Pergament. Und auf diesem steht das Sch‘ma Israel, das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis: Höre Israel , ich bin Dein Gott und mir allein sollst du dienen.

Der Sinn dieser Mesusa ist: Jedes Mal, wenn ich mein Haus betrete oder verlasse, mahnt mich der Türpfosten, die Mesusa: Sei weise. Höre nicht nur auf Deine Gefühle und Gedanken. Höre, was Gott sagt. Höre auf seinen Gedanken für dich und in dir. Und wie das gemeint ist, das erzähle ich jetzt in einer Aggada, einer kleinen humorvollen jüdischen ‚Erklärungsgeschichte‘.

Gott sitzt immerzu auf seinem Thron, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und damit beginnt das eigentliche Problem. Nicht für den Menschen. Aber für Gott. Ihn beginnt das Sitzen auf einem Thron schrecklich zu langweilen. Nun wäre Gott nicht Gott, hätte er keine Mittel, die Langeweile zu vertreiben. Er aber tut es, indem er beginnt, ein Spiel zu spielen. Ein wunderbares Spiel: Er denkt Menschen. Und zwar nicht irgendwelche Exemplare der Gattung Menschheit. Er denkt vielmehr jeden einzelnen Menschen gesondert, ganz für sich. Und zwar in seiner jeweiligen Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Und er nimmt sich vor, diesen Gedanken, in welchem er einen Menschen gedacht hat, in die Tiefe eines jeweiligen Menschen zu versenken; je und je. Gott soll im Übrigen sehr große Freude an seinem Spiel haben und seither gar keine Langeweile mehr. Und wenn man ihn jetzt auf seinem Thron beobachten könnte, während er dasitzt und Menschen denkt, würde man bemerken, dass er gelegentlich laut auflacht, manchmal hintergründig, bisweilen verschmitzt lächelt. Manchmal auch strahlt, als hätte ihn einer der Engel für einen glänzenden Einfall gelobt. Was merkwürdigerweise niemals beobachtet wurde, ist dies. Noch nie hat Gott, nachdem er wieder einen Menschen fertiggedacht hatte, geweint.
(Kurz, 62. So zitiert in Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext 2024-25, S. 225)

Wie hat Gott dich gedacht? Wie hat er mich gedacht? – Unser Predigttext sagt: Er hat uns im guten Sinne menschlich gedacht. Und ich bin weise, wenn ich menschlich bin und menschlich bleibe, im Umgang mit mir selber und im Umgang mit anderen Menschen. Und unser Predigttext gibt uns für diese Menschlichkeit auch klare Kriterien an die Hand:

Kein Hochmut und kein falscher Stolz. Kein Mund, der die Wahrheit verdreht. Sich schlau machen. Den Verstand gebrauchen. Gerecht urteilen. Gerecht die eigene Macht einsetzen. Wer so handelt, ist weise. Und er oder sie ist weit mehr wert als alles Silber und Gold – was auch heißt, er oder sie ist weder käuflich noch bestechlich.

Weise ist, wenn ich menschlich bin und menschlich bleibe. Das ist deshalb der zweite wichtige Hinweis, den ich in unserem Predigttext finde. Wie das heute konkret aussehen kann, das hat uns Bischöfin Budde in Washington vor wenigen Tagen eindrücklich vorgeführt. Sie hat genau an diese Menschlichkeit appelliert. Sie hat im Gottesdienst an die Gnade und Barmherzigkeit von Präsident Trump appelliert. Und der hat keinen Hehl daraus gemacht, dass ihn diese Worte gar nicht gefallen haben. Aber dass es eine zierliche kleine Frau war, die diesen Appell an den mächtigen Mann gerichtet hat, auch das ist womöglich ein Zeichen. Denn wir haben ja gehört: Auch die Weisheit in der Bibel ist weiblich…

Weise ist, wenn ich mir selbst und meinen Gedanken und Gefühlen gegenüber kritisch bin. Das ist das Erste. Weise ist, wenn ich menschlich bin und menschlich bleibe. Das ist das zweite. Der dritte und letzte Hinweis aus unserem Predigttext, der hat nun direkt mit dem heutigen Sonntag zu tun, denn der lautet: Weise ist, wenn ich fröhlich und humorvoll bleibe.

In unserem Predigttext ist es die Weisheit selber, die fröhlich ist, an Gottes Seite lacht und sich über die Erde und auch über uns Menschen freut! Und wie diese ‚Freude trotz allem‘ heute machbar wäre, das hat der Autor und Kolumnist Axel Hacke im diesjährigen Andere-Zeiten-Fastenkalender wie folgt beschrieben:

Durchheitern ist ein schönes Wort. Es liest sich zuerst wie durchbraten, durchsetzen, durchdringen, durchhalten, durchmachen, durchsaufen. Aber es ist anders, weil es nicht auf der ersten Silbe betont wird, also auf dem durch, sondern auf dem zweiten Wortteil. Durchheitern.

Es stammt von Thomas Mann. In einem Brief in dem es um seinen Doktor Faustus ging, ein wahrhaft nicht einfaches und absolut tragisches Werk, lese ich: »Die Sache ist schwer, düster, unheimlich, traurig wie das Leben, ja noch mehr so, als das Leben, da immer Idee und Kunst das Leben übertreffen und übertreiben. Um genießbar zu sein, bedarf die Geschichte der Durchheiterung, und dazu bedarf es der Heiterkeit. Aber die ist mir bisher ja auch in schlimmeren Zeiten nicht ausgegangen.« …

Aber … ist das nur eine Erzählweise? Das ist es auch. Aber es ist mehr, es ist eben eine Haltung dem Pathetischen, Tragischen, ja, dem Leben gegenüber. Wenn man etwas heiter erzählt, das an sich nicht heiter zu sein scheint, dann leugnet man nicht das Traurige, Finstere, Existenziell-Fürchterliche, das im Erzählten stecken mag, man relativiert es nicht einmal. Aber man macht es auf eine bessere Art und Weise zugänglich, man schafft ein anderes Bild, ja, man malt überhaupt erst das ganze Bild. ' Denn allein mit tiefem Ernst ist das Leben nun mal nicht zu fassen. Besser, man durchheitert es.

(Axel Hacke in Andere-Zeiten-Fastenkalender 2025 S. 72)

Das Leben durchheitern. Ich glaube, auch dies ist ein Weg der Weisheit, der Weisheit Gottes. Und wenn ich es richtig sehe, dann ist der Weg der Weisheit auch der Weg, den Jesus uns weist. Denn das Joch, das er uns gibt, soll eben gerade keine Last sein, sondern eine Tragehilfe für die schweren Seiten des Lebens im Großen wie im Kleinen.

Deshalb: bleiben wir kritisch gegenüber unseren eigenen Gedanken und Gefühlen. Bleiben wir menschlich. Und durchheitern wir unsere Welt und unser Leben.

Ich denke, in diesem Sinne können und sollen auch wir heute Jubilate feiern, nicht trotz, sondern gerade wegen all der großen Probleme unserer Zeit. Weil wir – weise sind (oder es wenigstens sein sollten).

Amen

 

Jubilate 2025 - Pastor Olav Metz

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