Tradition heißt nicht die Asche aufheben, sondern die Flamme
weiterreichen. (Ricarda Huch)
Die wahren Verwandten
(Mk 3, 31-35)
Liebe Gemeinde,
Wer ist mein Bruder, wer ist meine Schwester, wer ist meine Mutter? So fragt Jesus. Und seine Antwort ist ganz einfach: Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.
Das klingt ganz einfach. Aber so einfach, wie es klingt, ist die Sache leider nicht. Denn den Willen Gottes tun, was heißt das denn konkret?
Ein guter Ausgangspunkt sind natürlich die Gebote und Weisungen Gottes. Das sind in nach jüdischer Zählung insgesamt 613: 365 Gebote des Unterlassens und 248 Gebote des Tuns. Aber auch Gebote helfen leider nur bedingt, weil sie am Ende doch nicht alles eindeutig regeln können. Darf man Menschen am Sabbat helfen, wo doch jegliche Arbeit verboten ist? Darf man eine Ehebrecherin steinigen – trotz Tötungsverbot? Darf man dem Kaiser Steuern zahlen auch wenn er auf den Münzen als Gott dargestellt wird?
Jesus wird mehrfach in solchen Konfliktfällen um Rat gefragt. Und auch damals gab es Menschen, die gesagt haben: Um wirklich den Willen Gottes zu erfüllen, müssen wir noch strikter und ggf. noch kleinteiliger auf die Einhaltung der Gebote achten. Und einer von diesen war offenbar Jesus eigener Bruder Jakobus. Wohl hat er in Jesus den Messias gesehen. Aber für ihn war er der Messias der Juden und nur der Juden bzw. Proselyten. Und die 613 Vorschriften der Thora müssen trotzdem erfüllt werden – Messias hin, Messias her!
Hätte es nur diesen Weg gegeben, dann säßen wir heute nicht hier, weil es dann einfach keine christlichen Gemeinden gegeben hätte. Dass wir trotzdem hier sitzen, das haben wir maßgeblich dem Apostel Paulus zu verdanken. Denn er war es, der mit dem Glauben an Jesus die Grenzen des Judentums und der Thora überschritten hat. Und damit sind wir jetzt wieder direkt bei der Frage nach dem Willen Gottes und den wahren Verwandten. Weil Paulus an dieser Stelle den Willen Gottes und den Willen Jesu wohl besser verstanden als dessen Bruder Jakobus und er so betrachtet mehr sein Bruder war, als dieser.
Jesus, so erzählt uns der Evangelist Markus, ist nämlich nicht der Meinung gewesen, dass wir den Willen Gottes dadurch besser erfüllen, dass wir noch akribischer, noch genauer, noch kleinteiliger auf die Gesetze und Gebote achten. Dass die wichtig und unverzichtbar sind, das wusste er auch. Aber er hat immer wieder danach gefragt, in welchem Geist wir diesen Weisungen folgen.
Der Geist Jesu aber, das war nicht der Geist der Abgrenzung und der Ängstlichkeit, sondern der Geist der Freiheit und Offenheit. Deshalb hat er über alle Gebote das Liebesgebot gestellt, das auch in der Epistellesung angeklungen ist. Und in diesem liebevoll-freien Geist hat er gewirkt: Er hatte mit Zöllnern und Sündern Kontakt – was das jüdische Gesetz eigentlich verbietet. Er hat sich sich unter die Leute gemischt – egal ob sie Juden oder Araber oder Palästinenser waren. Und er hat sogar mit nichtjüdischen Menschen und gegessen und sie geheilt!
All das war nach dem jüdischen Gesetz nicht erlaubt. Aber Jesus hat diese Grenzen überschritten, um gerade so den Willen Gottes zu erfüllen. Das aber hat zugleich Konflikte geschaffen. Konflikte mit denen, für die diese Regeln unaufgebbar wichtig waren: Pharisäer z.B. oder Schriftgelehrte. Aber auch Konflikte in der Familie, die das offenbar auch anders gesehen hat.
So stehen sie vor der Tür und wollen Jesus da ‚rausholen‘. Er aber lehnt das ab, weil er den Willen Gottes eben nicht in der besonders guten Erfüllung dieser oder jener Gebote erkennt, sondern in der Liebe, die für ihn über all diesen guten oder gut gemeinten Regeln steht.
Ja, und damit komme ich jetzt zu uns heute. Deshalb, weil auch für uns als Christen gilt: Unser Auftrag ist es, den Willen Gottes zu tun. Die große Frage ist aber auch heute, wie wir das am besten zu machen ist. Und da beobachte ich auch heute zwei Entwicklungen.
Da ist auf der einen Seite der Ruf, sich angesichts all der Schwierigkeiten und Probleme in unseren Kirchen und in unserer Welt und angesichts all der Verunsicherungen und Ängste, die das mit sich bringt, noch strikter und akribische an die Gebote zu halten. Nur, wenn wir uns konsequent an alles halten, was die Gebote vorschreiben, nur dann erfüllen wir wirklich den Willen Gottes.
Kreise, die dies propagieren, gibt es nicht nur in Amerika, sondern zunehmend auch bei uns. Und es ist auch gar nicht zu bezweifeln, dass dies auch heute Menschen hilft, in aller Verunsicherung unserer Zeit ein festes Geländer und darin einen Halt fürs Leben zu finden.
Schaue ich allerdings auf Jesus, dann muss ich sagen: Er hat wohl um die Wichtigkeit und den Wert der Gebote und Regeln der Bibel gewusst. Das Heil aber hat er nicht in einer immer noch strengen Handhabung dieser Regularien gesehen, sondern im liebevoll-kritischen Umgang mit ihnen. Nicht die Regeln sind entscheidend, sondern der Geist, in dem wir sie gebrauchen. Diese Freiheit in Liebe hat Jesus gelebt. Zu dieser Freiheit – so sagt Paulus – sind auch wir befreit. Und die endet – so erzählt die Ostergeschichte - nicht mal an der Grenze des Lebens.
Wer ist mein Bruder, wer ist meine Schwester, wer ist meine Mutter? So fragt Jesus. Ich glaube, auch wir heute können zu seiner Familie gehören, wenn wir dem Willen Gottes folgen, so, wie Jesus es uns lehrt: In der Freiheit und Offenheit, die alles, was zu tun und zu lassen ist, unter das große Gebot der Liebe stellt.
Dass dieser Weg zuweilen schwieriger, ungemütlicher, unberechenbarer und vielleicht sogar weniger erfolgversprechend ist, als der Weg der Abgrenzung und der klaren Regeln, davon müssen wir ausgehen. Aber ich glaube, nur wenn wir dieses Risiko wagen, nur dann sind wir wirklich in seinem Geist unterwegs.
Was heißt das konkret? Nun, einer der Jesus in dieser Freiheit nachgefolgt ist, war Dietrich Bonhoeffer. Der hat in einem kleinen Gedicht im Gefängnis in für mich sehr überzeugender Weise beschrieben, wie sich die Gebote und die Freiheit zueinander verhalten. Das Gedicht heißt „Stationen der Freiheit“ und die ersten beiden Verse dieses Gedichts möchte an den Schluss dieser Predigt stellen.
Zucht
Ziehst du aus, die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem
Zucht der Sinne und deiner Seele, dass die Begierden
und deine Glieder dich nicht bald hierhin, bald dorthin führen.
Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen
und gehorsam, das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist.
Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht.
Tat
Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.
Ja, wir brauchen Regeln, an denen wir uns orientieren können. Ihnen zu folgen, ist im Vokabular Bonhoeffers die Zucht. Die Zucht aber ist kein Selbstzweck, sondern sie soll uns zur Freiheit der Kinder Gottes führen. Und die finden wir nur, wenn wir uns nicht ängstlich an falsche Sicherheiten klammern, sondern uns in den Sturm des Lebens zu stellen wagen.
Ja, wir wagen uns damit auf einen unsicheren, konfliktreichen und vielleicht sogar lebensgefährlichen Weg. Aber wir können dadurch sein Das Liebesgebot Jesu erfüllen. Und wir können auch über Generationen hinweg seine wahren Verwandten sein.
Amen
14. September 2025 - Pastor Olav Metz
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