Tradition heißt nicht die Asche aufheben, sondern die Flamme
weiterreichen. (Ricarda Huch)
Die Mitte - kurz und bündig
(Mk 12, 28-34)
Liebe Gemeinde,
Welches ist das höchste Gebot? Mit dieser Frage geht es ums Ganze, um die Mitte, um das Höchste in Sachen Tun, Lebenspraxis, Ethik. Es geht um das, was in meinem Leben gelten soll. Mehr noch: Das soll zugleich der Punkt sein, auf dem alle Gebote fußen, die Mitte, die alles zusammenhält und jeder Weisung als Teil dieses ‚Höchsten‘ erst ihre volle Bedeutung verleiht. Und diese Mitte soll bitte so kurz und klar formuliert sein, dass ich sie mir auch gut merken kann.
Welches ist das höchste Gebot? Über Jahrhunderte ist dies deshalb eine ganz zentrale Frage in der jüdisch-rabbinische Tradition gewesen. Und weil das Gespräch Jesu mit dem Schriftgelehrten ein Teil dieser Tradition ist, möchte ich zunächst kurz ein paar Worte zu dieser Tradition sagen.
Die Thora zählt - nach Rabbi Simlai - 613 Gebote: Das sind 365 Gebote des Unterlassens - entsprechend den Tagen des Sonnenjahres. Und 248 Gebote des Tuns - entsprechend den Körpergliedern des Menschen. Gläubige Jüdinnen und Juden kennen alle diese Gebote natürlich. Was aber ist in dieser Fülle das Wichtigste?
Eine mögliche Mitte ist in diesem Gottesdienst bereits angeklungen, und zwar im 15. Psalm: Hier wird in elf Sätzen zusammengefasst, was zentral wichtig ist: Ein vorbildliches Leben führen. Das Rechte tun. Die Wahrheit sagen. Niemanden verleumden. Keinem was Böses tun und keinen in Verruf bringen. Mit den richtigen Leuten verkehren, seine Eide halten, nicht Zinswucher betreiben und nicht bestechlich sein. Wer das tut, so sagt der Palm, der ist gerecht vor Gott.
Eine zweite Zentrierung auf nur sechs Leitsätze haben wir mit der Lesung aus dem Propheten Jesaja gehört: Wer gerecht lebt und die Wahrheit sagt, wer niemanden erpresst und unbestechlich ist, wer nicht an Mordplanungen beteiligt ist und nicht zuschaut, wo Unrecht geschieht, der entgeht dem alles verzehrenden Feuer - das übrigens nicht Gott entfacht, sondern wir Menschen selber!
Beim Propheten Micha gibt es sogar nur noch drei Grund-Sätze: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Recht tun, Güte und Treue lieben, und in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott. (Micha 6, 8) Und in Jesaja 56 besteht die zentrale Mitte nur noch aus zwei Dingen: Haltet euch an das Recht und sorgt für Gerechtigkeit. (Jes 56, 1)
Welches ist das höchste Gebot? Wenn wir auf die verschiedenen Zentrierungen der Gebote in der jüdisch-rabbinischen Tradition schauen, dann fällt auf: Sie alle berühren sich inhaltlich in der Gerechtigkeit. Der Gottesbezug zeigt sich im Tun des Gerechten. Wer dem Bedürftigen eine Stütze gibt, dem wird das Antlitz der Gottesgegenwart begegnen, so der Babylonische Talmud.
Gerechtes Handeln ist Gottesdienst. Nächstendienst ist Gottesdienst. Der Dienst der Liebe ist deshalb in der jüdischen Tradition Anfang, Mitte und Ende der Lebensweisung Gottes. Und nichts anderes sagt Jesus, wenn er auf die Frage nach dem Höchsten Gebot kurz und präzise antwortet: Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst.
Das bedeutet auch: Mit der Zentrierung aller Gebote auf die Liebe steht Jesus fest in der jüdischen Tradition. Jesus und der Schriftgelehrte sind sich hier ganz nahe. Sie sind beide nicht fern vom Reich Gottes. Und hier gibt es auch keinen Dissens zwischen Juden und Christen.
Und doch, so ist mein Eindruck, bekommt diese Mitte durch die Worte Jesu noch einmal ein besonderes Gewicht. Und zwar dadurch, dass so auch alles Recht und alle Gerechtigkeit auf den Grund der Liebe gestellt werden. Alles gerechte Tun sollte aus der Liebe kommen und in der Liebe geschehen. Wie Paulus sagt: Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe. (1. Kor 16,14)
So sollen wir Gott suchen. Und wer dies tut, dem gilt dann auch die Verheißung des Propheten Amos, der die Zentrierung der Thora am Ende auf diesen einen Satz bringt: Sucht den Herrn, so werdet ihr leben. (Amos 5, 6a) Weil Gott Liebe ist. (1. Joh 4, 16). Seine Liebe ist der Grund für alles Tun für und mit uns Menschen. Diese Liebe ist deshalb auch der Grund der Gebote: Weil er uns liebt, setzt er Recht und Gerechtigkeit. Und wir sollen dieses Recht aus Liebe halten. Weil wir seine Ebenbilder sind.
Soviel zur Theologie. Aber hier wird es nun auch ganz weltlich und menschlich und spannend. Denn die Liebe ist ein schwankender Grund. Sie ist – im Unterschied zu Recht und Gesetz – eben nicht juristisch einforderbar oder gar einklagbar. Sie ist auch nicht beweisbar. Sie basiert einzig auf - Vertrauen.
Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Das bedeutet: Wage das nötige Gottvertrauen, das Vertrauen, das er da ist und deinen Weg begleitet selbst dann, wenn du vielleicht gerade nichts davon spürst. Wage das nötige Vertrauen zu anderen Menschen, auch wenn dieses Vertrauen immer wieder enttäuscht werden wird! Und wage das nötige Selbstvertrauen, trotz all deiner eigenen Schwächen und Grenzen um die du selber wahrscheinlich am besten weißt! Denn du sollst Gott und dem Nächsten ja nicht statt deiner selbst vertrauen, sondern wie dir selbst.
Liebe ist eine Sache des Vertrauens, zu mir selbst, zu meinem Nächsten und zu Gott. Dieses Vertrauen – so Jesus - ist nun aber auch die Grundlage für Recht und Gerechtigkeit. Und damit sind wir jetzt mitten in Alltag unserer Welt angekommen. Denn was geschieht, wenn dieser Grundsatz der Liebe und des Vertrauens verloren geht? Was geschieht, wenn sich auch in demokratischen Staaten keine Mehrheit mehr findet, die Liebe und Vertrauen, Menschenrecht und Menschenwürde in den Mittelpunkt stellen?
Die Folgen können wir gerade sehen: In Russland. In Palästina und Israel. In den Vereinigen Staaten: Recht und Gerechtigkeit werden ausgehöhlt, werden zum Spielball von Eigeninteressen, von Nationalismus und Egoismus. Wir zuerst! heißt die neue Devise. Und das hat mit Liebe und Vertrauen, mit Recht und Gerechtigkeit nichts mehr zu tun.
Die Liebe ist ein schwankender Grund. Das erleben wir heute und das ist zuweilen in höchstem Maße beängstigend. Umso wichtiger ist aber, dass wir gerade heute nicht in Angst und Resignation stecken bleiben. Und deshalb möchte ich abschließend noch einmal eine Stimme aus dem Alten Testament zu Wort kommen lassen. Es ist die Stimme des Propheten Habakuk, der vor ca. 2.500 Jahren genau die gleichen beängstigenden Erfahrungen macht. Und der schreibt sich und uns ins Stammbuch:
In einer Zeit der Bosheit (Hab 1,3) und der Rechtsbeugung, in der Gebot und Recht anscheinend ohnmächtig geworden sind (Hab 1,4.13), in der Gewalt blüht und die eigene Stärke zum Gott wird (Hab 1,11), in einer Zeit tödlicher politisch-gesellschaftlicher Bedrohung (Hab 1,12) wird nicht der »Vermessene« und »Selbstherrliche« überleben, sondern derjenige, der in Treue festhält an der Gerechtigkeit (Hab 2, 4) – gegenüber Gott und den Menschen!
Ja, es gibt Zeiten, in denen Liebe und Vertrauen keine guten Karten haben. Unsere Sache aber muss es sein, gerade in diesen Zeiten tapfer dem Mainstream zu widerstehen und an dieser göttlichen Mitte festzuhalten.
Ich vertraue jedenfalls darauf, dass diese Mitte gilt und trägt, auch heute. Ich vertraue darauf, dass Gott an unserer Seite ist und bleibt, wenn wir diese Mitte nicht aufgeben. Und mit Habakuk vertraue ich darauf, dass das langfristig das bessere Lebenskonzept ist und am Ende - mit Gottes und unserer Hilfe - Recht und Gerechtigkeit siegen werden.
Mit Jesus sage ich deshalb kurz und bündig: Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Das gilt für mich - trotz allem.
Amen
24. August 2025 - Pastor Olav Metz
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