Tradition heißt nicht die Asche aufheben, sondern die Flamme
weiterreichen. (Ricarda Huch)

Zum Volkstrauertag 2026
(Mt 25, 14-30)

Liebe Gemeinde,

heute ist Volkstrauertag. Wir denken an die Opfer von Krieg und Gewalt. Und gemeinsam werden wir nachher am Denkmal der gefallen Soldaten einen Kranz niederlegen. Aber wieso tun wir das? Der erste Weltkrieg ist inzwischen 107 Jahre her, der zweite 80 Jahre. Wieso erinnern wir auch heute noch daran?

Ich weiß, dass diese Frage von verschiedenen Menschen sehr verschieden beantwortet wird. Ich sage deshalb ganz bewusst und aus meiner ganz persönlichen Perspektive: Ich finde das wichtig, weil diese Menschen Diener waren; sie haben gedient. Ich finde das wichtig, weil sie für diesen Dienst einen hohen Preis gezahlt haben – sie haben mit ihrem Leben bezahlt. Und ich finde das wichtig, weil wir daraus etwas lernen können, etwas für unseren Dienst und unser Dienen heute.

Lernen für unser Dienen: Wie ich das meine, das möchte ich mit zwei Geschichten erläutern. Die erste, die haben wir bereits als Lesung gehört, die Geschichte von den drei Dienern, die das Vermögen ihres Herrn verwalten sollen. Die zweite Geschichte, das ist die Geschichte von Ophorus, und die hören wir jetzt.

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Ophorus war ein starker, sehr starker Mann. Das war schon aus seinem Namen herauszuhören, denn Ophorus heißt Lastenträger. Und weil er so stark war, hatte er sich auch was Besonderes vorgenommen. Er wollte mit seiner großen Kraft nicht irgendwem dienen, sondern dem größten Herrn der Welt.

Als erstes kam er zu einem mächtigen König. Der nahm ihn in seinen Dienst und Ophorus diente ihm treu. Aber eines Tages sang ein Spielmann vor dem König ein Lied, in dem der Teufel vorkam. Und immer, wenn der Name des Teufels fiel, erschrak der König und bekreuzigte sich. Er fürchtete, dass der Teufel Gewalt über ihn gewinnen könnte und ihm am Ende schaden würde. Als Ophorus das sah, sagte er: Wenn du den Teufel fürchtest, dann ist er offenbar größer und mächtiger als du. Dann bist du nicht der mächtigste Herr der Welt und ich will zum Teufel gehen und in seinen Dienst treten.

Ophorus begegnete dem Teufel in einer Einöde. Er war wild und schrecklich anzusehen aber das erschreckte Ophorus nicht. Er trat in seinen Dienst und gelobte ihm ewige Treue.

Aber eines Tages kamen sie an eine Straße, da war ein Kreuz am Wege. Als der Teufel das Kreuz sah, verließ er die Straße und kehrte erst hinter dem Kreuz wieder auf den Weg zurück. Ophorus wunderte sich und fragte ihn, wieso er das täte. Der Teufel antwortete: Es war ein Mensch, Christus mit Namen, den hat man ans Kreuz geschlagen. Wenn ich sein Kreuzzeichen sehe, fürchte ich mich und gehe ihm aus dem Weg. Ophorus aber antwortete: Wenn du dich vor diesem Christus fürchtest, dann ist er größer und mächtiger als du! Dann leb wohl, denn ich habe den größten Herrn der Welt noch nicht gefunden.

Nun versuchte Ophorus, diesen Christus zu finden. Man riet ihm, zu beten und zu fasten, aber das vermochte er nicht. Zuletzt traf er auf einen alten Einsiedler und der sagte: Dann arbeite. - Geh an den großen Fluss. Viele Menschen schaffen es nicht, hinüberzukommen. Du bist groß und stark und kannst sie hinübertragen.

Das tat Ophorus und viele Jahre diente er so den Reisenden. Bis zu jener Nacht, als er vom anderen Ufer die Stimme eines Kindes hörte: Komm herüber und trag mich rüber! Ophorus ergriff seinen Stab, durchwatete den Strom, nahm das Kind auf seine Schultern und ging los. Aber je weiter er schritt, umso höher stieg das Wasser, und das Kind auf seinen Schultern wurde immer schwerer. Mit letzter Kraft erreichte er das rettende Ufer. Er setzte das Kind ab und sagte: Du bist auf meinen Schultern ganz schwer geworden und hast uns so in große Gefahr gebracht! - Wer bist du?

Das Kind antwortete: Wundere dich nicht darüber. Ich bin Christus. Ich trage die Lasten der ganzen Welt. Du aber hast mir geholfen, diese Lasten zu tragen, denn du hast mich getragen. Deshalb sollst du zukünftig nicht mehr Ophorus heißen, sondern Christophorus, der Christusträger. Und als Zeichen dafür nimm deinen Stab und stecke ihn in die Erde. Christophorus tat, was das Kind ihm gesagt hatte. Und als er am nächsten Morgen aufstand, trug der Stab Blätter und Früchte.

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Soweit die Geschichte von Christophorus, der uns ja durch die Schule und den Kreisverkehr in Sellin alles andere als fern ist. Seine Geschichte und die von den anvertrauten Talenten lehren mich für unseren Dienst und unser Dienen drei Dinge. Auf die möchte ich mit meiner Predigt heute eingehen, weil sie uns helfen können, dass unser Stab heute grünt.

Die erste Lehre lautet: Vergrabe deine Talente nicht, sondern hole sie raus und setze sie ein! Natürlich – das erzählt schon die biblische Geschichte - sind die Begabungen unter uns unterschiedlich verteilt. Aber das ist kein Grund, das, ich das, was ich kann, verstecke oder vergrabe.

Und schon an dieser Stelle gibt es m.E. heute viel zu tun. Ich kenne jedenfalls viele Menschen, bei denen ich mir sehr wünsche, dass sie ihre Gaben selbstbewusster und mutiger einsetzen. Und ich bin dankbar für jeden, der seine Talente rausholt, auch wenn dabei natürlich niemand von uns perfekt ist.

Die zweite Lehre, die ich aus unseren beiden Geschichten ziehe, lautet: Achte darauf, dass du nicht nur dir selber mit deinen Gaben dienst! Bei Ophorus beeindruckt mich, dass er zwar dem höchsten Herrn dienen will, dabei aber den niedrigen Dienst nicht scheut. Er macht nicht etwa Karriere, sondern er bleibt Lastenträger! Aber gerade das zeigt: Er dient eben nicht sich mit seinen Gaben, sondern anderen; er dient dem Gemeinwesen.

Ich finde, auch in dieser Stelle gibt es heute viel zu tun. Wir leben ja in einer Zeit höchster Individualisierung mit der permanenten Aufforderung zur Selbstverwirklichung. Und natürlich ist es nicht verwerflich, sich selber ernst zu nehmen und auf die eigenen Interessen zu achten.

Wenn das aber dazu führt, dass niemand mehr in der Feuerwehr, in der Gemeindevertretung, in der Kirchengemeinde oder bei der Bundeswehr dem Gemeinwesen dienen will, dann ist es schlecht um uns und unsere Gesellschaft bestellt. Weil es schlicht nicht funktioniert, wenn alle die Dienste der Gesellschaft in Anspruch nehmen wollen, aber nur wenige bereit sind, der Gesellschaft mit ihren Talenten zu dienen. Die Gesellschaft, das sind wir, jeder von uns. Deshalb bin ich sehr dankbar für jeden, der nicht nur auf sich und seine Interessen schaut, sondern wie und wo auch immer dem Gemeinwesen dient.

Die dritte Lehre, die ich aus unserer Geschichte ziehe, lautet: Pass genau auf, wer dein oberster Dienstherr ist! Genau an dieser Stelle berühren sich nämlich unsere beiden Geschichten. Und sie beide sagen: Diene Gott!

Ich glaube, diese dritte Lehre ist die größte Herausforderung in unserer Zeit. Weil wir in einer weitgehend säkularisierten Welt leben, für die Gott keine Rolle spielt. Das Problem aber ist, dass wir alle trotzdem einen Maßstab brauchen, der uns in unserem Leben die richtige Grundrichtung weißt. Und dieser Maßstab ist wichtig, damit wir kritisch bleiben. Kritisch mit uns selbst und dem, was wir für uns wollen. Aber auch – siehe Ophorus - kritisch mit all jenen, denen wir dienen.

Nur wer einen solchen Maßstab hat, nur der kann bewusst entscheiden, ob er wirklich dem richtigen Herrn dient und seine Talente wirklich sinnvoll einsetzt. Nur wer diese Entscheidungsmöglichkeit hat, nur der hat auch die Freiheit, sich für oder ggf. auch gegen diesen oder jenen weltlichen Herrn zu entscheiden. Und wie ich das meine, das möchte ich abschließend nochmal mit einer kleinen, sehr persönlichen Geschichte erläutern.

Auch ich habe mal gedient. Von 1980 bis 1982 habe ich meinen Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee der DDR geleistet. Das war die Zeit, in der die Solidarnosc in Polen gegen das politische System aufzustehen begann. Und das hatte Folgen bis in unsere Kaserne: Die Ausbildung wurde eingestellt. Es gab plötzlich keinen Ausgang und Urlaub mehr. Wir mussten das Sturmgepäck Teil I und II packen. Und dann saßen wir mehrere Wochen auf gepackten Koffern und wussten nicht, ob wir morgen den Befehl erhalten, in Polen einzumarschieren.

In Polen einmarschieren gegen den Willen der Menschen dort? Vielleicht sogar auf polnische Bürger schießen? - Mein innerer Maßstab hat mir damals gesagt: Wenn es soweit kommt, dann kannst du nicht mehr deinen weltlichen Herrn dienen, sondern allein deinem Gott! Denn da war ich mir ganz sicher: Sein Wille ist das nicht!

Bis heute bin ich unendlich dankbar, dass es damals nicht so weit gekommen ist. Und ich weiß auch nicht, ob ich diese Entscheidung mit all ihren Konsequenzen dann durchgehalten hätte. Der Vorsatz aber war klar: In diesem Fall muss ich den Befehl verweigern, weil ich einem größten Herrn zu dienen habe.

Ich als Christ nenne diesen Herrn ‚Gott‘. Manch anderer wird ihn vielleicht ‚Gewissen‘ oder ‚Grundwerte‘ nennen. Aber wie auch immer wir es nennen: Mich lehren diese beiden alten Geschichten und meine eigenen Erfahrungen, dass es wichtig ist, einen solchen Kompass zu haben. Damit wir mit unserem Dienen wirklich Gutes wirken. Und ich denke, gerade an einem Tag wie heute sollten wir uns an denen orientieren, die diesem Kompass selbstlos und tapfer gefolgt sind und bis heute folgen.

Deshalb:

- Vergrabe deine Talente nicht, sondern hole sie raus und setze sie ein!
- Achte darauf, dass du nicht nur dir selber mit deinen Gaben dienst!
- Und pass genau auf, wer dein oberster Dienstherr ist!

Ich glaube, wenn wir in diesem Sinne mutig dienen, dann haben wir etwas aus diesen alten Geschichten und auch aus unserer deutschen Geschichte gelernt. Und ich denke, dann kann auch unser Stab heute grünen, so wie bei Christophorus damals.

Amen

 

16. November 2025 - Pastor Olav Metz

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