Tradition heißt nicht die Asche aufheben, sondern die Flamme
weiterreichen. (Ricarda Huch)

Waage der Hoffnung
(Offenbarung 21, 1-6)

Liebe Gemeinde,

eine Waage habe ich heute im Gepäck, eine Waage für den Totensonntag. Es ist eine Waage mit zwei Waagschalen, eine Waage also, mit der man etwas gegeneinander auswägen kann. Und am Ende sollten dann die beiden Seiten im Gleichgewicht sein.

Genau darum geht es mir heute am Totensonntag: um das Gleichgewicht. Denn auch wir müssen in unserem Leben etwas auswägen und das ist unsere Hoffnung. Und die können wir grundsätzlich auf zwei verschiedene Seiten setzen.

Von der einen Seite erzählen die Verse aus der Offenbarung des Johannes, die wir als erste Lesung gehört haben: Es wird einen neuen Himmel und eine neue Erde geben. Den Tod wird es nicht mehr geben und Leid, Geschrei und Schmerzen werden nicht mehr sein. Weil Gott sagt: Am Ende mache ich alles neu.

Die Hoffnung, die in diesem Text so großartige Bilder findet, das ist die Hoffnung auf eine neue, eine bessere Welt. Diese Welt liegt jenseits unserer heutigen Welt. Diese Welt schafft Gott. Und diese Welt – so Johannes - wird sich nach dem Tod für uns öffnen.

Diese Hoffnung stemmt sich vehement gegen all die Trauer und Hoffnungslosigkeit in unserer Welt. Ich kenne Menschen, die ganz auf diese Hoffnung gesetzt und ihr ganzes Vertrauen in diese Waagschale geworfen haben. Unter ihnen sind auch Menschen, an die wir heute noch einmal ausdrücklich denken. Und mich berührt immer wieder, wie diese Hoffnung Menschen getragen hat und trägt.

Nun gehört zum Leben aber natürlich auch das Diesseits, die Welt, in der wir leben, die Welt heute und hier. Und mehr, als Menschen, die auf die jenseitige Welt Gottes hoffen, begegnen mir heute Menschen, die ihre Hoffnung ganz in diese Waagschale werfen, die Waagschale dieser Welt.

Alle ihre Hoffnungen und Wünsche verbinden sie mit dem Leben hier und jetzt, denn mit dem Tod, so sagen viele von ihnen, ist alles aus. Das spornt sie an, ihr Leben nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Es spornt sie an, möglichst viel zu schaffen, möglichst viel zu erreichen, möglichst viel zu erleben. Und wenn ihnen das gelingt, dann können sie am Ende oft auf ein erfülltes Leben zurückschauen.

Das Jenseits ist die eine Seite, das Diesseits die andere. Und deshalb habe ich heute diese Waage im Gepäck. Weil sie mir zeigt, was Gott für mein Leben will. Gott will nämlich, dass ich mit meinen Hoffnungen und Wünschen ins Gleichgewicht komme, ins Gelichgewicht zwischen meiner Welt heute und der neuen Welt Gottes. Und warum das so wichtig ist, das will ich jetzt kurz erläutern.

Wer all seine Hoffnung nur auf das Jenseits setzt, der mag damit einen weiten Horizont finden. Aber er läuft dann sehr schnell Gefahr, das Diesseits, das Hier und Jetzt, das ganz alltägliche Leben für nicht so wichtig zu halten.

Der Kirche ist im Laufe ihrer Geschichte immer wieder vorgeworfen worden, sie würde die Menschen mit der Botschaft vom Jenseits nur vertrösten. Und schlimmer noch, die Kirche würde dadurch dazu beitragen, dass bestehende schlimme Zustände auf der Welt nicht verändert, Unrecht nicht beseitigt und Leid nicht gelindert würde.

Diese Kritik sollten wir ernst nehmen, weil auch christlich betrachtet die Welt, in der wir hier leben, nicht etwa minderwertig ist. Sie ist vielmehr Gottes Schöpfung und unser Leben ist sein Geschenk für uns. Wenn wir dies gering achten, dann missachten wir Gottes Gaben. Und eine Jenseitshoffnung, die dies tut, kann dann tatsächlich zu einer billigen Vertröstung werden.

Jenseitshoffnung allein ist deshalb zu wenig. Aber ich sage umgekehrt nun auch: Diesseitshoffnung allein ist auch zu wenig. Sie ist zu wenig, weil wir dann so selbstverständliche Dinge wie z.B. das Ende des Lebens einfach nicht wahr- und ernstnehmen. Wir verschweigen, dass der Tod selbstverständlich zum Leben dazugehört. Und wenn wir dann doch damit zu tun kriegen, dann sind viele Zeitgenossen heute einfach rat- und eben auch hoffnungslos.

Und noch etwas kommt hinzu: Wenn ich angesichts des Todes keine Hoffnung mehr haben, dann muss ich natürlich zwangsläufig alle Hoffnung auf das Leben jetzt setzten. Alles, was sein soll, muss ich jetzt und hier erreichen. So haste ich dann durch mein Leben, versuchen, nichts zu verpassen. Und wenn die Kräfte das dann irgendwann nicht mehr hergeben, dann erlebe ich viele, die bitter oder zynisch werden und am Ende resignieren.

Nur das irdische Leben zu sehen und alles von ihm zu erwarten, auch das ist am Ende also letztlich eine ‚Vertröstung‘. Weil sich die großen Hoffnungen, die sich dann mit dem Leben verbinden, am Ende einfach nicht mehr erfüllbar sind. Und ich habe den Eindruck, gerade darunter leiden viele Menschen heute.

Und damit komme ich jetzt wieder zu meiner Waage zurück, weil sie mir zeigt: Wir brauchen nicht das eine oder das andere, die Hoffnung auf das Jenseits oder die Hoffnung auf das Diesseits. Wir brauchen vielmehr Hoffnung auf beiden Seiten. Damit wir das Leben hier intensiv leben und trotzdem den weiten Horizont behalten, der über dieses Leben hinausragt. Wenn wir unsere Hoffnung so verteilen, dann können wir mit unserem Leben und Sterben ins Gleichgewicht kommen. Und genau das ist es, was Gott für unser Leben will.

Das heißt konkret: Es ist gut und richtig, dass wir etwas von unserem Leben und von der Welt erwarten. Das Diesseits wirklich ernst zu nehmen, das Gute zu genießen und das Schwierige zu besiegen oder anzunehmen, das ist nichts Verwerfliches. Zugleich sollten wir aber nicht die Hoffnung aufgeben, dass wir auch über unser Leben hinaus bei Gott aufgehoben sind. Weil uns auch dann noch etwas tragen kann, wenn wir an die Grenzen dieser Welt und unseres Lebens stoßen. Und weil wir dann auch nicht mehr gezwungen sind, alles mit Hochdruck alles aus unserem Leben herausholen zu müssen.

Wenn ich meine Hoffnung so verteile, dann kommt mein Leben ins Gleichgewicht. Und am Schluss meiner Predigt möchte ich ihnen jetzt von einem Menschen erzählen, der dieses Gleichgewicht gefunden und in berührende und humorvolle Worte gefasst hat. Im Jahre 2016 ist im Alter von 82 Jahren der Sänger Leonard Cohen gestorben. Wenige Monate vor ihm starb in Schweden seine alte Freundin Marianne Ihlen. Der Film „So long, Marianne“ erzählt von der Verbindung der Beiden. Am Ende wird dort ein aus einem Brief zitiert, den Cohen kurz vor deren Tod an seine alte Freundin geschickt hat. Und das klingt so:

Nun, Marianne, jetzt ist es so weit, dass wir wirklich so alt sind und unsere Körper auseinanderfallen, und ich glaube, dass ich dir bald folgen werde. Sei gewiss, ich bin so nah hinter dir, dass deine Hand, wenn du sie ausstreckst, die meine fassen kann. Du weißt, dass ich stets deine Schönheit geliebt habe und deine Weisheit, doch darüber muss ich gar nichts mehr sagen, denn das weißt du alles. Nun wünsche ich dir eine gute Reise. Auf Wiedersehen, alte Freundin. Endlose Liebe, wir sehen uns am Ende der Straße.

Liebe Gemeinde, ich hoffe, dass wir alle – wie Leonard Cohen - unser Leben leben und lieben. Und ich hoffe zugleich, dass wir uns am Ende der Straße wiedersehen. Hoffen wir auf das Diesseits und auf das Jenseits. Gott will nämlich, dass unser Leben ins Gleichgewicht kommt. Und er traut uns zu, dass uns das gelingt, auch heute am Totensonntag.

Amen

 

 

23. November 2025 - Pastor Olav Metz

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