Tradition heißt nicht die Asche aufheben, sondern die Flamme
weiterreichen. (Ricarda Huch)
Seh auf! - Nimm dein Bett! - Geh umher!
(Joh 5, 1-16)
Liebe Gemeinde,
es gibt eine Brücke, die uns mit der eben gehörten Jesusgeschichte von vor 2.000 Jahren verbindet, und diese Brücke heißt Betesda. Betesda heißen bis heute diverse Krankenhäuser z.B. in Hamburg, in Wuppertal oder Ulm. Und die haben ihren Namen von dieser alten Geschichte: denn wie die Menschen damals zum Teich Betesda kamen, um gesund zu werden, so kommen heute Menschen zur Behandlung ins Krankenhaus.
Aber nicht nur der Name Betesda und die Hoffnung auf Heilung sind damals wie heute die Gleichen. Gleich ist auch, wie unterschiedlich die Erfahrungen sind, die Menschen machen, die geheilt werden wollen:
Bei dem Einem schlägt die Behandlung an. Er wird gesund und kann wieder in den Alltag seines Lebens zurückkehren. Bei dem Anderen dagegen gelingt die Heilung nicht. Die Therapie versagt und die ärztliche Kunst kommt an ihre Grenzen. Austherapiert heißt es dann irgendwann.
Wie schmerzlich es ist, wenn Ärzte nicht mehr helfen können, das spüren wir besonders, wenn wir - wie heute - an die denken, von denen wir haben Abschied nehmen müssen. Und auch das ist damals genauso, wie heute.
Es ist ein solcher, austherapierter Fall, in den sich Jesus in unserer Geschichte einmischt: Da liegt ein Mann, der seit 38 Jahre krank ist. Und in dieser Zahl steckt schon die ganze Hoffnungslosigkeit seiner Situation, denn 38 ist eine ‚sprechende‘ Zahl: 38 Jahre – so erzählt die Bibel - wandert Israel durch die Wüste von Kadesch zum Bach Sered. (Dtn. 2, 13ff) Eine ganze Generation stirbt in dieser Zeit. Und Gott schweigt die ganze Zeit. Eine hoffnungslose und gottlose Situation.
Überraschend ist, wie Jesus in diese hoffnungslose Geschichte hineingeht: Unter den vielen auf Heilung Wartenden sucht er sich genau diesen Mann aus. Aber er beginnt seine Behandlung nicht mit der üblichen Anamnese. Wo tut‘s denn weh? Seit wann haben sie das? Welche Medikamente nehmen sie zur Zeit? Jesus fragt den Mann nur: Willst du gesund werden?
Dumme Frage, könnte man denken. Wozu sitzt der Mann denn sonst da am Teich!? Aber hier wird es nun spannend. Jesus will, dass dieser Mann aktiv ausspricht, was er will. Nach 38 Jahren Krankheit: gibt es da wirklich noch einen Willen, wieder gesund zu werden? Und Jesus tut dies, weil der Wille wichtig ist. Denn Gesundheit ist nicht nur, aber auch eine Sache des Willens.
Auch dies ist deshalb Anamnese. Und wie wichtig die ist, das zeigt der Fortgang des Gespräches. Der Mann antwortet nämlich nicht etwa Ja, ich will!, wie man erwarten würde und wie wir es ja auch aus anderen biblischen Geschichten kennen. Er fängt vielmehr an, zu erzählen.
Ja, er könnte den Teich vielleicht erreichen, aber er komme ständig zu spät: Die anderen seien immer schneller. Und niemand wäre da, der ihm hilft. Und damit sagt er: Ich bin das Opfer, der Unterlegene, der ewige Looser. Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Ich kann nichts dagegen machen. Und in dieser Rolle hat er sich im Laufe von 38 Jahren eingerichtet.
Damit ist die Anamnese für Jesus beendet und es beginnt die Therapie. Und die besteht aus drei denkbar knappen Anordnungen: 1. Steh auf! 2. Nimm dein Bett! Und 3. Geh umher!
Steh auf! – Ja, das zu verlangen, ist eine Zumutung. Aber die hat ihren Grund im Zutrauen. Jesus traut diesem Mann zu, auf eigenen Füßen zu stehen. Deshalb soll er ein neues Lebensmotto lernen. Dieses lautet: Ich kann nicht alles, aber was ich kann, das will ich tun. Er soll wollen lernen. Und deshalb macht Jesus ihm Beine.
Nimm dein Bett! – Mit dieser zweiten Anordnung verhindert Jesus zunächst mal, dass der Mann ‚rückfällig‘ wird, also auf sein Bett und damit in seine alte Opferrolle zurückfällt. Sich einfach wieder fallen lassen, das geht nicht mehr, wenn man das Bett unterm Arm hat.
Aber was m.E. noch wichtiger ist: Das Bett unterm Arm zeigt auch: wenn ich auf eignen Füßen stehen will, dann werde ich meine Lebenslast nicht einfach los. Ich werde sie zu tragen haben. Das können, wie in unserer Geschichte, die ‚Altlasten‘ sein. 38 Jahre Opferrolle kann man nicht einfach wegmachen. Und keiner von uns wird seine Geschichte einfach los. Es kann aber auch die Erfahrung sein, dass manche Krankheit eben nicht oder nicht ganz heilbar ist. Und auf eignen Füßen stehen bedeutet dann, bewusst mit dieser Last zu leben und tapfer zu sagen: Die will ich tragen.
Und dann Geh umher! – Das bedeutet: Zeige dich! Zeige dir und den anderen, wer du jetzt bist! Zeige, was sich bei dir gewandelt hat. Zeige, dass du gesund geworden bist. Mag sein, dass du auch jetzt nicht alles kannst; manche Last bleibt oder kommt vielleicht sogar neu hinzu. Aber was du kannst, das tust du. Du tust es jetzt. Und dafür brauchst du keine Heilquelle und kein Krankenhaus, sondern nur deinen Willen.
Und wie es das bei uns, bei mir und dir? – Nun, in Gesprächen und Begleitungen merke ich immer wieder, wie schwer es vielen Menschen fällt, dieses Wollen zu wagen. Und ganz oft sind es auch hier die ‚Altlasten‘, also die schwierigen Erfahrungen von früher, die es ihm oder ihr schwer oder sogar unmöglich machen, sich auf die eigenen Beine zu stellen, das Bett in die eigenen Hände zu nehmen und mit dieser Last loszugehen. Und ja, ich freue mich, wenn ich da dem einen oder der anderen ein bisschen Beine machen kann.
Aber es gibt auch Menschen, denen das in eindrücklicher Weise und ganz ohne mich gelingt. Und da möchte ich ihnen am Schluss meiner Predigt von meinem Bruder erzählen. Der hat seit vielen Jahren MS und ist inzwischen fast komplett auf personelle und technische Hilfe angewiesen. Aber was er selber tun kann, das macht er selber, nach wie vor.
Z.B. denkt er sich elektronische Schaltungen aus, Schaltungen, mit denen er sprachgesteuert das Bett bewegen oder das Fenster öffnen und schließen oder die Lampe dimmen kann. Zusammenbasteln muss ihm das dann jemand anderes, aber benutzen kann er die Dinge dann wieder alleine.
Ich kann nicht alles, aber was ich kann, das will ich tun. Das ist seine Haltung. Und das schönste Zeichen für diese Haltung ist der neue Rollstuhl, den er dieses Jahr bekommen hat. Auch den musste er wollen. Aber das hat er geschafft. Und das Schöne und Symbolträchtige an diesem Rollstuhl ist: mit seiner Hilfe kann er sich jetzt wieder auf die eigenen Beine stellen! Und das, so sagt er, ist ein sehr gutes Gefühl.
Steh auf! Nimm dein Bett! Und Geh umher!
Es gibt Menschen, die diesem Ruf folgen, auch heute. Die Freiheit, die sie damit erreichen, ist natürlich nicht beliebig. Manche Lasten bleiben. Aber sich dennoch auf die eigenen Füße zu stellen und sie zu tragen, ja, sie tragen zu wollen, ich glaube, das ist die Freiheit, zu der Christus den Kranken damals und uns heute befreien will.
Von dieser Freiheit kann uns letztlich nichts trennen. Wir müssen nur wollen, uns auf sie einlassen wollen. Und Menschen, die dies wagen, die mögen vielleicht körperlich eingeschränkt sein. Aber ich bin sicher, im Herzen sind viele von diesen Menschen dann weit gesünder, als mancher von uns, der sich für körperlich gesund halten mag.
Ich glaube, das ist es, was Gott für uns und unser Leben will unabhängig davon, wie gesund oder krank wir gerade sind. Und deshalb gilt letztlich für jeden von uns: Steh auf! Nimm dein Bett! Und Geh umher!
Amen
26. Oktober 2025 - Pastor Olav Metz
Wenn Sie auf die Predigt reagieren möchten, schreiben Sie einfach eine Email an moenchgut@pek.de. - Ich freue mich über Ihre Gedanken zur Predigt.